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Er ist nicht weggegangen, er ist einfach dageblieben!

Niklas*, 19, steht vor einer schweren Entscheidung. Inmitten einer schwierigen Situation bleibt er standhaft und findet Unterstützung bei Sozialarbeiter Martin K.*, der ihm hilft, seinen Weg zu finden. Eine Geschichte von Mut und Durchhaltevermögen.

Echte Einblicke ins Jugendamt

Eine Aufzeichnung von Renate Eder-Chaaban

Das Jugendamt löst bei vielen Menschen Ängste aus. Doch erhalten sie dort vor allem viel Unterstützung. Eltern und Kinder berichten, wie ihnen die Behörde geholfen hat.

Er ist nicht weggegangen, er ist einfach dageblieben!

Niklas*, 19, sagt diesen Satz ruhig und reflektiert. Dabei wäre Weggehen für Martin K.* manchmal vielleicht wirklich einfacher gewesen. Aber Martin K. ist Sozialarbeiter, Weglaufen ist für ihn keine Option. Einige Kolleg:innen hatten sich an diesem schweren Fall schon abgearbeitet und er war der Einzige, der geblieben ist.

Doch zurück zum Anfang. Mitte der 2000er Jahre schlägt ein schwerer Missbrauchsfall im Landkreis hohe Wellen. Ein Mann, 50 Jahre alt, Familienvater, hatte über Jahre hinweg seine beiden Söhne sexuell missbraucht. Auch vor einem Freund des älteren Sohnes hatte er nicht Halt gemacht und auch ihn schwer missbraucht. Das wäre unter Umständen noch Jahre so weiter gegangen, wäre nicht Kommissar Zufall ins Spiel gekommen. Der Vater, Angestellter einer Logistikfirma, hatte übers Wochenende seinen Laptop in der Firma gelassen. Als ein Kollege Zugriff auf die dort abgespeicherten Firmendaten brauchte, entdeckte er unzählige Bild- und Videodateien, in denen der Missbrauch akribisch dokumentiert worden war. Dieser schaltete sofort die Polizei ein, und Niklas‘ Vater wurde noch am gleichen Tag verhaftet.

Die Boulevardpresse stürzt sich auf alle Beteiligten und zu allererst natürlich auf die Familie. Ausführlich wird in den Gazetten über die Tortur der Kinder, zwischen fünf und zehn Jahre alt, berichtet. Auch als der Vater verurteilt wird, hört der Presserummel nicht auf. Für die beiden Jungen wird jeder Tag zur Schule zu einem Spießrutenlauf. Mutter und Kinder sind in einem fragilen Zustand und brauchen dringend Hilfe.

Im Fall eines sexuellen Missbrauchs wird das Jugendamt sofort eingeschaltet. Mitarbeiter suchen die Familie auf, kümmern sich und ergreifen erste Maßnahmen. Der ältere Sohn zieht zu seiner Tante in einen anderen Landkreis, der kleinere Bruder bleibt bei der Mutter. Niklas wird umgeschult, aber in den Unterricht geht er selten. Er entwickelt eine Strategie: „Na ja, ich bin zur Vordertür in die Schule rein und zur Hintertür wieder raus.“ Zuhause angekommen, löscht er alle Nachrichten auf dem AB – so fällt lange niemand auf, dass Niklas ein Schulverweigerer ist. Irgendwann wird er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Auch hier entwickelt er eine Vermeidungsstrategie, und wird nach sechs Wochen wieder entlassen. Eine analytische Einzeltherapie scheitert ebenfalls.  

Nach den fehlgeschlagenen psychiatrischen und therapeutischen Maßnahmen ist das Jugendamt wieder hundert Prozent zuständig. Man stellt Niklas einen Erziehungsbeistand zur Seite, der ihn eine längere Zeit begleiten wird. Martin K. ist ein ruhiger Mann mittleren Alters. Er hat verschiedene Zusatzausbildungen und einige Jahre in der Psychiatrie gearbeitet. In seiner Laufbahn als Sozialarbeiter hat er schon einige schwere Fälle betreut. „Aber Niklas war eine Herausforderung. Im Rückblick würde ich sagen: Er war eine Art Systemsprenger. Hatte er sich doch bis dato allen Maßnahmen verweigert, die Schule geschwänzt, Psychiater und Therapeuten ausgetrickst. Oft sprach er tagelang nicht und kapselte sich ab. Er litt unter Depressionen und in Stresssituationen bekam er Panikattacken.“ Martin K. nähert sich dem Jungen vorsichtig. „Am Anfang hab ich erstmal seine Ressourcen abgeklärt. Was macht er gerne? Was kann er gut?“

Niklas reagiert abwartend und denkt: „Den bin ich nach fünf Mal wieder los. So wie die anderen halt auch!“ Aber Martin K. gibt nicht auf. Regelmäßig besucht er Niklas und baut Kontakt zu ihm auf. Der Junge, der nächtelang am Computer zockt, die Schule schwänzt, ist irritiert. Damals hat er das nicht verstanden, heute aber weiß er, dass Martin K. ihm helfen konnte.

Die beiden gehen ins Kino oder Bowling, und nähern sich so einander an. Martin K. findet heraus, dass Niklas gerne andere Städte besucht, also beantragt er eine Freizeitmaßnahme. Als Erstes fahren die beiden nach Berlin. Sie mieten eine Ferienwohnung und erkunden die Stadt. Fünf Tage lang sind sie unterwegs, und es läuft beileibe nicht alles glatt. „Wir haben viel gestritten und einmal ist er weggelaufen.“ Aber der Betreuer vertraut darauf, dass Niklas wiederkommt. Das tut er auch, aber der Machtkampf geht weiter. Der Junge, zu dem Zeitpunkt ist er 16, macht die Nacht zum Tag. Gegen Mitternacht fängt Niklas an zu kochen und bis in die frühen Morgenstunden spielt er mit dem Handy. Gemeinsame Aktivitäten am Tag verweigert er. Der Sozialarbeiter fordert Kooperation und greift zu einem radikalen Mittel. Er sperrt die Küche zu und wartet. „Das war passiver Widerstand. Aber am Ende bin ich selbst eingeknickt. So gegen fünf Uhr nachmittags hatte ich so einen Hunger, dass ich es nicht mehr ausgehalten hab. Da bin ich zu Niklas und hab ihn gefragt, ob er nicht auch was essen möchte.“ Wollte er nicht, aber Martin K. macht die Küche wieder zugänglich und damit ist das Eis gebrochen. Niklas hält sich wieder an die vereinbarten Regeln: gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsame Ausflüge, gemeinsames Erleben. Die restlichen Tage in der Hauptstadt verlaufen störungsfrei, fast harmonisch.

Spätestens seit Berlin ist für Niklas klar, dass dieser Sozialarbeiter nicht aufgeben wird und er fasst Vertrauen – endlich. Aber es kommt auch immer wieder zu Rückschlägen. Etwa als das Jugendamt versucht, ihn in einer therapeutischen Wohngruppe unterzubringen. Beim Einzug bekommt Niklas eine Panikattacke und schließt sich in einem Zimmer ein. Die Maßnahme muss abgebrochen werden und für den Sozialarbeiter ist klar, dass die Zeit noch nicht reif ist. In Absprache mit seiner Chefin verlängert das Jugendamt die Erziehungsbeistandschaft.

In der Folgezeit unternehmen Martin K. und Niklas viel miteinander. Sie fahren nach Wien und Italien und gehen in die Berge. Bei einer Gipfeltour kommt es zum Durchbruch. Der Anstieg fällt Niklas schwer, er kämpft mit seiner Kondition und will mehrmals aufgeben. Aber Martin K. motiviert ihn immer wieder und schließlich schafft es der Junge bis zum Gipfel. Dort oben angekommen, realisiert Niklas, dass er etwas erreichen kann, wenn er sich anstrengt.  

Die Ausdauer und Geduld des Sozialarbeiters haben sich ausgezahlt. Niklas, der jahrelange Schulverweigerer, macht eine Kehrtwende. Plötzlich interessiert er sich für seine Zukunft. „Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, wie es mit meinem Leben weitergehen soll.“ Er macht seinen Hauptschulabschluss nach und beschließt, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist. Da muss es noch mehr geben.

Zusammen mit Martin K. formuliert er seine Berufswünsche. „Da war natürlich was mit Computern, da kannte ich mich schließlich aus.“ Und dann nennt er noch Sozialpädagogik. Arbeiten mit Menschen, das würde ihm Spaß machen. Aber er weiß, dass ein Studium mit einem Hauptschulabschluss nicht möglich ist. Nach langen Gesprächen stellt sich heraus, dass der Beruf des sozialpädagogischen Assistenten ein Weg auf die Hochschule sein könnte. Er schreibt sich auf der Berufsfachschule für Kinderpflege ein und versucht dort Fuß zu fassen. Aber der regelmäßige Schulunterricht und die Praktika bereiten Niklas Schwierigkeiten. Als es in seiner Praktikumsstelle Probleme gibt, beschließt er eigenständig, diese zu wechseln. Das eigenmächtige Vorgehen wird nicht geduldet und führt schließlich zum Rausschmiss.

Im zweiten Anlauf, ein Jahr später, klappt es. Niklas beendet die Kinderpflegeschule erfolgreich und schreibt sich auf der Berufsoberschule ein. Wenn alles gut geht, macht er in zwei Jahren sein Fachabi und kann dann studieren. Die Erziehungsbeistandschaft ist inzwischen beendet, aber Kontakt zu Martin K. hat Niklas immer noch, in ihm hat er einen Vertrauten gefunden.

* Die Namen aller beteiligten Personen sind geändert.

Geschrieben wurden diese Aufzeichnungen nach intensiven Gesprächen mit Betroffenen und Mitarbeitenden von Jugendämtern. Alle Beteiligten haben den Text autorisiert.

Unterschiedliche Meinungen über Hilfeleistungen und Unterstützungsangebote gehören zum beruflichen Alltag der Jugendämter. Es kommt immer wieder mal vor, dass Sie mit Entscheidungen nicht zufrieden sind, Probleme auftauchen, schwierige Erfahrungen machen oder Sie sich einfach über Ihre Rechte informieren möchten. Hierfür bieten Ihnen Ombudsstellen Hilfe an.