Mehr Mama und Papa als meine Eltern.
Karim wurde als Pflegekind aus einer belasteten Familie gerettet. Ein Kind, das im Heim Halt fand und sich durch Kampfgeist und Unterstützung seinen eigenen Weg bahnt. Eine starke Bindung zu seiner zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin wird zu einem Lichtblick in Karims Leben.
Die beiden waren mehr meine Mama und mein Papa, als meine richtigen Eltern es je sein konnten.
Karim (17)* war fünf Jahre alt, als er vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. „Das hab ich nur vage in Erinnerung und es war auch nicht dramatisch. Ich lag im Krankenhaus und dann kam eine Frau und hat mich mitgenommen.“ Die Frau war vom zuständigen Jugendamt. Sie nahm Karim und seine beiden Geschwister aus der Familie und brachte sie in Sicherheit. Ein paar Tage davor war beim Jugendamt eine anonyme Gefährdungsmeldung eingegangen.
Karim kommt aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Der Vater ist gebürtiger Palästinenser, die Mutter stammt aus dem Kosovo. Beide waren irgendwann in den 1990er Jahren nach Deutschland eingewandert, verliebten sich und heirateten bald darauf. In kurzer Abfolge kamen die drei gemeinsamen Kinder zur Welt, daneben gab es noch zwei ältere Töchter aus einer früheren Partnerschaft der Mutter, die ebenfalls in der Familie lebten.
Aber die Ehe lief nicht gut. Das Geld war knapp, die Wohnung klein, das Stresslevel hoch. Vor allem die junge Mutter war häufig überfordert und gestresst. Oft gab es Probleme und Streit. Manchmal kam es auch zu Handgreiflichkeiten und die Eheleute verprügelten sich gegenseitig, aber auch die Kinder blieben nicht verschont.
Das Jugendamt griff ein, als der kleine Karim mit einer Verbrennung im Krankenhaus lag. Was genau passiert war, lässt sich heute nicht mehr gänzlich klären. Der Junge sagte, er selbst habe sich die Verletzung zugefügt, was für die Jugendamtsmitarbeitenden aber eher unwahrscheinlich klang. Klar war, Karim hatte eine Brandverletzung am Ohr, vermeintlich verursacht durch ein heißes Bügeleisen.
Damals trat Mareike K.* vom Jugendamt in Aktion. Sie war und ist bis heute die zuständige Sozialpädagogin. „Die Familie war dem Jugendamt schon bekannt. Seit einigen Jahren unterstützte eine Familienhelferin von einem freien Träger die Eltern. Ein scheinbar normaler Fall: überforderte Eltern, geringe Impulskontrolle und ein hohes Aggressionspotential. Aber was wirklich abging, war für Außenstehende nicht ersichtlich – die Familie war gut im Verbergen. Bis nach dem Vorfall mit dem Bügeleisen die anonyme Gefährdungsmeldung beim Jugendamt einging.
Die vier, fünf und sechs Jahre alten Geschwister kamen in eine sogenannte Kleinsteinrichtung, die in einem Haus im Wald gelegen war. Diese wurde von einem Paar mit der passenden pädagogischen Ausbildung betrieben. Eine Betriebserlaubnis für die Zahl von fünf Kindern lag vor und sie konnten so die drei Geschwister und zwei weitere Kinder aufnehmen. Karim fühlte sich dort sofort wohl. „Es war herrlich. Ich konnte immer raus in den Wald zum Spielen.“ Habe er denn seine Eltern nicht vermisst? „Nein, ich hab mich bei Melanie* und Jörg* sofort zu Hause gefühlt. Sie waren mehr meine Eltern, als meine richtigen Eltern es je sein konnten.“
So erzählt es Karim heute, zwölf Jahre später. Für ihn war das Haus im Wald das Paradies. Seine Geschwister waren bei ihm, Melanie und Jörg waren liebevoll und zugewandt. Sie hatten die drei wie ihre eigenen Kinder aufgenommen. Den Umgang mit den Eltern und Geschwistern unterbrachen sie kurz nach dem Einzug. Ihr Argument: Die Treffen würden die Kinder zu sehr aufwühlen. Danach seien diese immer völlig verstört und bräuchten Tage, bis sie wieder zugänglich seien. So wurde es Frau K. kommuniziert. „Ich weiß noch, dass ich das eigentlich nicht in Ordnung fand. Wir wollen ja in den allermeisten Fällen den Kontakt zur Ursprungsfamilie halten. Aber das Wohl der Kinder stand im Vordergrund, so haben wir dem nachgegeben.“ Und dass es den Geschwistern gut ging, daran bestand für Frau K. kein Zweifel. Sie hatten sich innerhalb kürzester Zeit gut eingelebt, gingen gerne in die Kita und später in die Schule – alles schien auf einem guten Weg. Wäre es nach Karim gegangen, würde er heute noch in dem Haus im Wald leben. Aber es sollte anders kommen.
Die befristete Betriebserlaubnis war abgelaufen und Melanie und Jörg hatten beschlossen mit den Kindern in eine nächst größere Stadt zu ziehen. Die Kinder wurden eingeweiht, nicht aber das Jugendamt oder das für die Betriebserlaubnis zuständige Landesjugendamt. Frau K. ist auch heute noch etwas aufgebracht, wenn sie davon erzählt: „Als wir davon erfuhren, sind wir natürlich sofort eingeschritten.“ Zur Rede gestellt, kam heraus, dass die beiden Betreuer zwar den Plan hatten, umzuziehen, aber weder hatten sie ein geeignetes Objekt gefunden, noch wussten sie genau wohin.
„Das war alles ziemlich chaotisch“, erinnert sich Frau K. Für sie und ihre Kolleg:innen war aber klar, dass dieses eigenmächtige Vorgehen inakzeptabel und auch rechtlich nicht zulässig war. Die Geschwister würden deshalb nicht nur ihr „Heim“ im Wald verlieren, sondern auch ihre Ersatzeltern, die sich als nicht zuverlässig erwiesen hatten. Frau K. fand eine geeignete größere Einrichtung für die drei in ihrer Stadt. Aber der Wegzug war vor allem für Karim eine Katastrophe.
Entsprechend schwierig war die erste Zeit im Heim. Aber in der Wohngruppe hatte jedes Kind einen festen Bezugsbetreuer, und allmählich wurde es besser, die Kinder kamen langsam an. Für Frau K. war es ab diesem Zeitpunkt wichtig, den Kontakt zu den leiblichen Eltern wieder zu intensivieren. Melanie und Jörg, die inzwischen in einer anderen Stadt lebten, sahen die Kinder nur noch sporadisch.
Karims Eltern waren inzwischen geschieden. Die Mutter lebte allein und der Vater hatte eine neue Familie gegründet. Trotz der unterschiedlichen Lebensumstände wollten beide die Kinder am liebsten sofort wieder bei sich haben. Frau K. teilte ihnen mit, dass sie den Kontakt anfangs nur als begleiteten Umgang erlauben könne und eine gänzliche Rückführung der Kinder nicht erwogen würde. Das war vor allem für die Mutter schwierig. Sie konnte die Vorgaben des Jugendamts nicht akzeptieren, entsprechend schwierig liefen die Treffen mit den Kindern. Anders lief es mit dem Vater. Er suchte die Nähe zu seinen Kindern und ließ ihnen aber auch genug Raum. So konnten sie langsam wieder Vertrauen aufbauen. Heute haben alle drei einen guten Kontakt zu ihrem Papa. Der Umgang mit der Mutter gestaltet sich immer noch schwierig.
Wie hat er, Karim, die erste Zeit im Heim empfunden? „Das war sehr schwer, aber irgendwie musste es ja weitergehen.“ Er und sein Bruder stritten sich in der Zeit viel und sie fingen auch an, sich zu verprügeln. „Das war natürlich nicht im Sinne unserer gewaltfreien Erziehungskonzepte“, erzählt Frau K. „Ich habe mich mit den Erzieher:innen in der Wohngruppe zusammengesetzt und überlegt, wie wir den Jungen trotzdem die Möglichkeit geben konnten, ihre wohl über Jahre angestauten Aggressionen abzubauen.“ Gemeinsam fanden sie in einer Turnhalle einen geeigneten Ort, wo sich die beiden Brüder miteinander messen konnten. „Wir haben unser Möglichstes getan, damit es den Kindern gut geht. Es war ja schon schlimm genug, dass sie nunmehr in einer für sie ganz neuen Umgebung aufwachsen mussten.“
Aber die Kinder beißen sich durch. Besonders Karim erweist sich als ausdauernd und zielstrebig. Er ist durchsetzungsfähig und wird durch seine einfühlsame und freundliche Art bald ein wichtiges Mitglied im Gruppenleben. In der Schule wird er Klassensprecher und im Heim engagiert er sich für den Garten. Er legte Blumen- und Gemüsebeete an und wünschte sich Bienenstöcke. Frau K. erinnert sich: „Das war ein Riesentheater. Bis jetzt hatte niemand im Amt mit Bienenstöcken zu tun gehabt, geschweige denn welche finanziert. Und als das nicht gleich funktionierte, wurde Karim ungeduldig. Kurzum: Realität traf auf Verwaltung.“ Aber der Stress hat sich gelohnt, irgendwann war die Genehmigung da und Karim bekam seine Bienenstöcke und betätigte sich fortan als Imker.
Inzwischen besucht er eine weiterführende Schule. Später will er zur Bundeswehr und dort eine Ausbildung zum Rettungssanitäter machen. Die ersten Sondierungsgespräche hat er schon hinter sich. Und auch wenn die Ausbildung zum Rettungssanitäter nicht einfach wird, ist er doch zuversichtlich. „Wenn das mit der Bundeswehr nicht klappt, probiere ich es auf einem anderen Weg. Optimistisch blickt er in die Zukunft. Auch Frau K. ist sich sicher, dass Karim seinen Weg gehen wird. „Für ein Heimkind ist es manchmal schwieriger und nicht selbstverständlich“, sagt sie stolz. Aber Karim will von so einem Schubladendenken nichts wissen. Er sieht sich als ganz normalen Jugendlichen, der vielleicht ein bisschen anders aufgewachsen ist.
Auf die Frage, welche Note er geben würde, wenn er die Arbeit des Jugendamts bewerten müsste, antwortet er nachdenklich: „Auf einer Skala von eins bis zehn? Da würde ich acht Punkte geben. Es gibt sicher ein paar Tröten, aber mit ihr hab ich Glück gehabt. Frau K. weiß, was sie tut und gibt sich Mühe. Ich kann nichts Schlechtes berichten.“
* Die Namen aller beteiligten Personen sind geändert.
Geschrieben wurden diese Aufzeichnungen nach intensiven Gesprächen mit Betroffenen und Mitarbeitenden von Jugendämtern. Alle Beteiligten haben den Text autorisiert.
Unterschiedliche Meinungen über Hilfeleistungen und Unterstützungsangebote gehören zum beruflichen Alltag der Jugendämter. Es kommt immer wieder mal vor, dass Sie mit Entscheidungen nicht zufrieden sind, Probleme auftauchen, schwierige Erfahrungen machen oder Sie sich einfach über Ihre Rechte informieren möchten. Hierfür bieten Ihnen Ombudsstellen Hilfe an.