Die Frau vom Amt hat mir meine Kinder wiedergegeben.
Die Geschichte von Max, der zwischen seiner leiblichen Mutter Tina und seiner Pflegemutter Barbara hin- und hergerissen war. Eine Geschichte von Zusammenhalt, Liebe und der Suche nach einem Zuhause, die zeigt, wie zwei starke Frauen für das Glück und Wohl des kleinen Jungen kämpfen – und das Jugendamt sie dabei unterstützen konnte.
Die Frau vom Amt hat mir meine Kinder wiedergegeben.
Dies ist eigentlich die Geschichte des Pflegekindes Max, aber sie handelt auch von Tina und Barbara*. Die eine, Tina, ist seine leibliche Mutter, die nennt er Mama, und die andere ist Barbara, seine Pflegemutter, zu der er Muddi sagt.
Aber zurück zu Tina: Sie hatte mit 17 ihr erstes Kind bekommen und mit 19 erwartete sie ihr zweites. Bald nach der zweiten Geburt wurde ihrem Freund alles zu viel und von einem Tag auf den anderen verließ er die kleine Familie. Die junge Frau lebte in prekären Verhältnissen und hatte niemanden, der sie unterstützte. Sie versuchte, ihren Alltag mit den beiden kleinen Kindern alleine zu bewältigen, stieß aber ständig an ihre Grenzen und war bald hoffnungslos überfordert. Nach einer anonymen Meldung („Ich glaub, die Kinder werden vernachlässigt.“) schaltete sich das Jugendamt ein und musste die Kinder in Obhut nehmen.
Aber Tinas Geschichte soll hier nur am Rande erzählt werden, denn es geht um Max, den kleinen Jungen, der zuerst in einem Heim unterkam und schließlich als Pflegekind bei Muddi und ihrer Familie landete. Mit Muddi hat er großes Glück gehabt, wie seine Mama Tina weiß.
Heute ist Max 18 Jahre alt und hat bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Er war drei, als er vom Jugendamt in Obhut genommen wurde, sein Bruder sechs. Die beiden Jungen kamen zunächst gemeinsam in eine Jugendhilfeeinrichtung – ein Heim mit verschiedenen Wohngruppen, in denen bis zu neun Kindern mit ständig wechselnden Betreuern lebten. Max und sein Bruder taten sich schwer mit dem Eingewöhnen, aber immerhin hatten sie einander. Ihre Mutter sahen sie anfangs nur sporadisch und bald gar nicht mehr. „In den Akten steht, dass Max bei den Besuchen seiner Mutter sehr heftig reagiert hat und man wohl deshalb beschloss, den Umgangskontakt zu verringern“, erläutert Katharina G.*, Jugendamtsmitarbeiterin, die seit eineinhalb Jahren für Max zuständig ist.
Warum auch immer der Kontakt weniger wurde und später gar nicht mehr stattfand, lässt sich heute nicht mehr abschließend klären. Vielleicht gab es Fehler beim Jugendamt oder Probleme bei der leiblichen Mutter. Fest steht, Tina war damals verzweifelt und wusste nicht mehr weiter. Krank vor Sorge um ihre Kinder versuchte sie, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Sie zog in einen anderen Landkreis und sprach beim dortigen Jugendamt vor. Als sie ihre Geschichte erzählte, traf sie auf offene Ohren. „Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mir jemand zuhört, mich sieht“, erzählt Tina. Die zuständige Sozialpädagogin bestärkte sie in dem Wunsch, ihre Kinder sehen zu wollen. Sie setzte sich mit dem Heim in Verbindung und stellte den Kontakt her. Nach mehr als einem Jahr durfte Tina ihre beiden Kinder wiedersehen, diesmal allerdings getrennt. Denn in der Zwischenzeit hatte man den großen Bruder in eine andere Einrichtung verlegt. Der Kleine war alleine zurückgeblieben und wirkte verloren.
Was in Max vorging, wusste niemand so genau. Nur eine seiner Betreuer:innen, Susi M.*, hatte eine Ahnung. Sie hatte mitbekommen, dass er sich jede Nacht in den Schlaf weinte und war sich sicher, dass er in einer Pflegefamilie besser aufgehoben wäre. An dieser Stelle kommt Muddi Barbara ins Spiel. Sie ist Susis beste Freundin und wohnt im gleichen Haus.
Barbara erinnert sich: „Das war an Silvester. Wir haben zu viert gefeiert und da erzählte meine Freundin von diesem kleinen Jungen. Das war vielleicht nicht ganz korrekt, aber sie hat keine persönlichen Daten weitergegeben, nur von seinem Unglück berichtet.“ Seine Geschichte ging Barbara so ans Herz, dass sie ihren Mann am Neujahrstag mit der Frage überraschte, ob sie nicht nochmal Eltern werden wollten. Die beiden waren seit vielen Jahren verheiratet und hatten bereits vier Kinder. Ein kleiner Junge würde ihre Familie bereichern, davon war Barbara überzeugt. Die Eheleute waren sich schnell einig und auch die Kinder fanden die Idee eines kleinen Bruders aufregend und toll. „Sie wussten natürlich nicht, was das eigentlich bedeutet. Vor allem unsere Jüngste hat das sehr an ihre Grenzen gebracht“, erinnert sich Barbara heute. „Sie musste ihre Nesthäkchen-Position aufgeben, weil plötzlich noch jemand da war, der meine Aufmerksamkeit brauchte.“
Aber der Reihe nach. Barbara und ihr Mann beschlossen, Pflegeeltern zu werden und meldeten sich beim zuständigen Jugendamt. Sie wurden auf Herz und Nieren geprüft und belegten einen speziellen Kurs für Pflegeeltern. Dort wurde ihre Familiengeschichte aufgearbeitet. In vielen Sitzungen wurden Probleme besprochen, die mit einem Pflegekind auftreten könnten. Das war alles sehr interessant, aber als eine der Therapeutinnen vom Helfersyndrom sprach, brannten bei Barbara die Sicherungen durch. „Was sollte es denn sonst sein? Natürlich wollte ich helfen!“, konstatiert sie auch heute noch etwas aufgebracht. „Außerdem hatte ich schon vier Kinder großgezogen und kannte mich mit Kindererziehung aus. So dachte ich damals jedenfalls.“
Nach anderthalb Jahren war es so weit, alle Formalitäten waren erledigt, Max durfte kommen. „Ich war neun und erinnere mich, wie fröhlich der Familienhund auf mich zusprang und mich vor Freude fast umwarf. Als ich nach dieser stürmischen Begrüßung Muddi sah, wusste ich, hier bin ich richtig.“ Auch Tina wurde früh eingebunden. Im Vorfeld hatte das Jugendamt Kontakt zur leiblichen Mutter aufgenommen. „Wir versuchen, die Ursprungsfamilien von Anfang an in diesen Prozess einzubinden“, erklärt Katharina G. „Aber es gibt Eltern, die sich komplett rausziehen, nichts davon wissen wollen.“ Anders Tina, sie war sofort einverstanden als das Jugendamt ihr riet, den Jungen in eine Pflegefamilie zu geben. Einzige Bedingung: Sie darf Kontakt zu Max halten.
So kam es früh zu einer ersten Begegnung der beiden Mütter, Tina und Barbara. „Ich hatte natürlich Angst, dass ich meinen Sohn verlieren würde“, erinnert sich Tina heute, „aber als ich Barbara dann kennenlernte, wusste ich gleich, dass ich mir keine Sorgen machen muss.“ Denn die Pflegemutter macht ihr schnell klar: „Du bist Max‘ Mama und wirst es auch bleiben.“ Natürlich gab es trotz aller Sympathie immer mal wieder Konkurrenzdenken und Eifersucht, aber die beiden Frauen konnten die Probleme klären. „Wir haben immer alles auf den Tisch gepackt und offen darüber gesprochen“, erklärt Barbara und Tina stimmt ihr zu.
Max integrierte sich schnell in die neue Familie. Barbaras Töchter verstanden sich gut mit dem neuen Familienmitglied und machten klar, dass sie „mit einem Halbbruder nichts anfangen konnten“. Sie sagten ihm: „Entweder du bist jetzt unser Bruder oder nicht.“ Nach den vielen Jahren der Einsamkeit in der Wohngruppe, waren Sätze wie diese Balsam für seine Seele, und Max fühlte sich bald wie zu Hause. In der Schule kam er gut zurecht und seine Mama durfte er inzwischen auch regelmäßig sehen.
Aber Muddi war sein Anker. Wann immer es Probleme gab, war sie da. Mit ihrer direkten Art sprach sie die Probleme an und versuchte sie zu lösen. Manchmal war aber auch Diplomatie angesagt. Etwa als Max‘ älterer Bruder zurück zur Mutter konnte. Barbara hatte das im Vorfeld erfahren und versuchte Max die Neuigkeit so schonend wie möglich beizubringen. „Ich hab ihn gefragt, ob wir nicht für ihn beten wollten, dass auch sein Bruder bald wieder ein schönes Zuhause bekommt.“ Die Rechnung ist aufgegangen. Max reagierte erfreut, als er hörte, dass sein Bruder wieder bei Mama war und es ihm besser ging.
Barbara ging in ihrer neuen Rolle total auf. Doch bei allem Enthusiasmus, wäre ihr ein eigenes Kind beinahe verloren gegangen. „Franzi, unsere Jüngste, hatte Probleme. Sie war plötzlich nicht mehr die Nummer eins in der Familie und zog sich immer mehr zurück. Sie schwänzte die Schule, und eines Tages ging sie zum Jugendamt und machte eine Meldung: Konflikte in der Familie. Und dann saß plötzlich das Jugendamt bei Muddi am Küchentisch, aber es ging nicht um Max, sondern um Franzi. „Das war ein ziemlicher Schock für mich“, erinnert sich Barbara. Man merkt ihr heute noch an, dass sie dieses Ereignis an ihre Grenzen brachte. Aber mit viel Geduld und Liebe konnte sie auch diesen Konflikt lösen. Franzi hat trotz der vielen Fehlstunden ihr Abitur geschafft und das Verhältnis zu ihrer Mutter hat sich längst wieder eingerenkt. Barbaras selbstkritisches Fazit: „Ich war einfach zu arrogant, hab gedacht, ich weiß das alles. Ich hatte schließlich vier Kinder großgezogen. Aber ich kann nur allen Pflegeeltern raten, vergesst eure eigenen Kinder nicht und nehmt den Rat von Pädagogen an.“
Heute ist alles gut. Max und Franzi kommen gut miteinander klar. Beide leben noch „Zuhause“. Sie studiert und er steht kurz vor dem Abitur. Danach will er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter machen und später Medizin studieren. Zu seiner Ursprungsfamilie hat er regelmäßig Kontakt. Max ist glücklich, zwei Familien zu haben. Auch die beiden Mütter tauschen sich aus und Tina sagt über Barbara: „Muddi ist das Beste, was meinem Sohn passieren konnte.“
* Die Namen aller beteiligten Personen sind geändert.
Geschrieben wurden diese Aufzeichnungen nach intensiven Gesprächen mit Betroffenen und Mitarbeitenden von Jugendämtern. Alle Beteiligten haben den Text autorisiert.
Unterschiedliche Meinungen über Hilfeleistungen und Unterstützungsangebote gehören zum beruflichen Alltag der Jugendämter. Es kommt immer wieder mal vor, dass Sie mit Entscheidungen nicht zufrieden sind, Probleme auftauchen, schwierige Erfahrungen machen oder Sie sich einfach über Ihre Rechte informieren möchten. Hierfür bieten Ihnen Ombudsstellen Hilfe an.